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"Weh euch, ihr Pharisäer...!"

Der Text schlägt scharfe Töne an. Mit dem, was wir heute Streitkultur“ nennen, hat das Ganze offensichtlich nicht viel zu tun. Die Zeitgenossen Jesu dürften freilich diese Art zu reden besser verstanden haben als wir - wußten sie doch aus der Schrift, daß schon die Propheten in dieser Weise gesprochen hatten: dann nämlich, wenn das Unrecht in Israel derart angewachsen war, daß es nur noch um radikale Umkehr gehen konnte (vgl. etwa Jes 5,8-22). Weh euch...“ - das bedeutet in der Sprache der Propheten: Wenn ihr mit eurem ungerechten Tun fortfahrt, dann kommt das Gericht über euch. Wenn ihr einander beraubt, wenn ihr die Kleinen klein haltet, wenn ihr Lüge und Betrug unter euch zulaßt - dann wehe euch“, denn ihr seid nicht mehr das Israel, das Gott erwählt hat. Ihr brecht den Bund und werdet euch Tag für Tag mehr zum eigenen Gericht.

In dieser Sprache der Propheten wendet sich Jesus an die Pharisäer. Er will sie nicht einfach disqualifizieren, abschreiben oder verteufeln. Aber er nimmt in ihrem Tun eine Haltung wahr, mit der sie sich dem Willen Gottes entgegenstellen. All ihr Bemühen, das Gesetz möglichst genau zu befolgen, bleibt in äußerem Tun stecken. Sie achten auf kultische Reinheit, meiden alles, was sie nach dem Gesetz unrein machen könnte. Sie sondern sich selbst von den Menschen ab, die das Gesetz nicht halten oder wegen ihrer wirtschaftlichen Lage gar nicht halten können. So schlägt ihr hoher religöser Anspruch nicht selten um in Ausgrenzung der Armen, die sie für gesetzlos halten, und in Überheblichkeit gegenüber denen, die ihnen als unrein gelten.

An diesem Punkt aber gibt es für Jesus keine Kompromisse. Hier kann er ihnen nur drastisch vor Augen stellen, daß ihr Tun zerstörerisch ist und sie sich damit selbst das Gericht zuziehen. Sie halten sich zwar den Gräbern fern, weil die Berührung des Toten nach dem Gesetz verunreinigt - im Innern aber sind sie durch ihre Ausgrenzungen anderer Menschen ebenso unrein wie die von ihnen gemiedenen Gräber. Während aber die Grabstätten für jedermann als solche kenntlich gemacht sind, haben sie ihre innere Unreinheit übertüncht und durch äußerliche Gesetzerfüllung unkenntlich gemacht. Darum sollen sie umkehren: sich neu auf den Gott einlassen, der nicht nur äußere Taten fordert, sondern vor allem eine neue Gesinnung. Sie sollen aufnehmen, daß das Mühen um das Gesetz Gottes den Frommen niemals die Sicht auf die Menschen verstellt, sondern erst in der Liebe zum Nächsten seine Erfüllung findet.

Unsere Überlegungen sollten nicht bei den Pharisäern stehenbleiben: Denn wie andere Glaubensgemeinschaften steht auch die Gemeinde Jesu Christi immer in der Gefahr, daß ihr Glaube in Äußerlichkeiten erstarrt: daß nur bestimmte äußere Leistungen erbracht, ein geordneter Gottesdienst gefeiert, die richtigen Formeln gesprochen und die angemessenen Bekenntnisse rezitiert werden - aber vergessen wird, daß die Liebe zu Gott und den Menschen die eigentliche und immer aktuelle Forderung ist. Natürlich bedarf der Glaube auch der äußeren Wege, Formeln und Gesten. Dennoch werden wir weder Gott noch die Menschen finden, wenn wir unser Verhältnis durch Vorschriften und äußere Leistungen regeln. Denn Gott wie die Menschen lassen sich nur in der Liebe finden - und für die gilt immer die gleiche Regel“: daß sie von innen her, aus der Mitte meiner Person, aus meinem ganzen Herzen kommt.

Prof. Claus-Peter März, Theologische Fakultät Erfurt