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Der Stammbaum Jesu: Heil aus der Mitte Israels

Die Weihnachtsgeschichten der Bibel wirken eigentlich nicht sonderlich "christlich": Sie erzählen, daß ein jüdisches Kind von einer jüdischen Mutter in Betlehem, der alten Königsstadt Israels geboren wird und daß sich in diesem Kind die Verheißungen Israels erfüllen.

Das heißt: Wir müssen die Weihnachtstexte von der Glaubensgeschichte Israels her entschlüsseln. In diesem Sinne konfrontiert schon die erste Seite des Neuen Testamentes den Leser mit einem "Stammbaum" (Mt 1,1-17), der Jesu Geburt tief in der Geschichte Israels verankert. Er wirkt wie eine Anweisung, die Geburt Jesu auf dem Hintergrund dieser Vorgeschichte aufzunehmen. Es handelt sich dabei freilich nicht um einen in der Familie Jesu überlieferten Stammbaum. Wir haben vielmehr eine Zusammenstellung der frühen Gemeinden vor uns, die Jesus sehr bewußt der Geschichte seines Volkes zuordnen wollten. Der Text wirkt spröde. Am Anfang und am Schluß aber werden dem Leser Hilfen zum Verstehen gegeben: Er soll auf die besondere Verbindung zu Abraham, zu David und zur Babylonischen Gefangenschaft achten.

Der mit dem Alten Testament vertraute Leser weiß, was gemeint ist: Dem Abraham ist die Verheißung gegeben, daß er zum Segen für die Völker werden soll; mit David verbinden sich die Hoffnungen auf die Erneuerung Israels; der Hinweis auf die Babylonische Gefangenschaft erinnert an die Treue Gottes, der sein Volk immer wieder aufgerichtet hat. All diese Hoffnungen sammeln sich nun in diesem Kind.

Wenn wir den Text genauer lesen, fällt uns eine weitere Besonderheit auf: In die Abfolge der Generationen, die jeweils Vater und Sohn nennt, sind die Namen von vier Frauen eingefügt: Tamar, Rahab, Rut und die Frau des Uria. Sie stammen - wie man im Alten Testament nachlesen kann - allesamt nicht aus Israel, sondern aus heidnischen Nachbarvölkern. Auf ungewöhnliche Weise treten sie in die Geschichte Israels ein, haben dann aber für deren Fortgang große Bedeutung.

An diesen Frauen wird dem schriftkundigen Leser vor Augen geführt, daß die Geschichte Israels nicht durch die Weisheit von Menschen geleitet ist, sondern durch Erwählung Gottes. Menschlich gesehen mögen sie als Außenseiter gegolten haben, Gott aber erwählt gerade sie als "Mütter neuer Anfänge". Der Leser, der diese Signale aufnimmt, wird aufhorchen, wenn am Ende der langen Ahnenreihe nochmals eine Frau genannt wird: "Maria, aus der geboren wurde Jesus, der der Christus genannt wird." Wieder erwählt Gott eine Frau, und die Geburt ihres Kindes erscheint wie der Zielpunkt der langen Generationenfolge, in ihr sammelt sich die Geschichte Israels.

Wir sollten deshalb bei diesem Stammbaum nicht nur die letzten Sätze lesen, sondern mit der langen Reihe von Namen eintauchen in die Geschichte Israels. Sie erzählt von Treue und Untreue, von Hoffnung und Angst, von Leiden und Freuden - vor allem aber erzählt sie von dem Gott, der sich das Volk, das er liebte, als sein Eigentum erwählte. Eine solche Betrachtung der Weihnachtstexte, wie wir sie hier angedeutet haben, erscheint noch keineswegs überall selbstverständlich. Viele lesen die Weihnachtsgeschichte nur als Anfang der christlichen Geschichte.

Nicht selten las und liest man die Texte sogar als Geschichten eines Anfangs, der das, was zuvor war, vergessen machen soll: die Juden, ihr Gesetz und all das, was Geschichte Israels ausmacht. Und so lange liegen die Zeiten auch noch nicht zurück, daß mancher glaubte, an Weihnachten predigen zu können: "Deutsch ist der Name des Festes und seine Bräuche, in denen sich christlicher Glaube und deutsches Fühlen und Denken wundersam zusammenfügen." Die Weihnachtstexte laden zu vielfältiger Begegnung ein - auch zur Begegnung mit dem Volk, von dessen Verheißungen wir immer noch leben und mit dem wir auch durch den verbunden sind, dessen Geburt wir an Weihnachten feiern: den Juden Jesus von Nazaret, den wir als Nachkommen Abrahams und Davids bekennen und als Sohn Gottes verehren.

Prof. Claus-Peter März, Theologische Fakultät Erfurt