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Laß die Toten ihre Toten begraben

Sagen wir es ohne alle Umschweife: Das Bibelwort "Laßt die Toten ihre Toten begraben..." ist eine Absage an die intimste und elementarste Form der Pietät. Er wirkt bis heute schockierend. Wenn wir nicht wüßten, daß die Aussage auf Jesus zurückgeht, würden wir sie wahrscheinlich stillschweigend und ein wenig kopfschüttelnd zur Seite legen. Noch schärfer dürften es die Zeitgenossen Jesu empfunden haben: Schließlich wurde in Israel gerade die Ehrfurcht vor den Eltern in besonderer Weise eingeschärft (4.Gebot!); die Sorge für die Beerdigung des Vaters galt für den Sohn geradezu als "heilige Pflicht".

Halten wir deshalb fest: Das Wort Jesu von den Toten, die ihre Toten begraben sollen, bedeutet einen bewußten Bruch mit der herkömmlichen Pietät gegenüber den Eltern. Es setzt sich schroff über Gesetz und Sitte hinweg, es mißachtet die engsten familiären Bindungen. Und gerade dies scheint Jesus auch im Sinn zu haben. Denn er spricht auch sonst davon, daß der Jünger sich aus den familiären Banden zurücknehmen muß - er soll Vater, Mutter, Frau und Kinder zurücklassen, um ihm nachzufolgen.

Die Wege für die Verkündigung des Reiches Gottes verlangen totale Aufmerksamkeit und radikalen Einsatz. Sie dulden keinen Aufschub und keine wie auch immer gearteten "Nebenpflichten". Für die Boten, die etwas ganz Neues auszurufen haben, ist die alte Welt schon zurückgeblieben: die Welt, in der man einander familiär bindet, wo man Schutz findet in der Großfamilie und einander bis in den Tod und zum Begräbnis begleitet. Der Bote soll das unbegreiflich Neue vor Augen haben - die kommende Herrschaft Gottes. Er soll jetzt schon in der Gemeinschaft mit Jesus diesem neuen Miteinander leben. Das verlangt freilich von ihm einen Bruch in seiner Biographie: Er muß dieses Reich Gottes bedingungslos an die erste Stelle setzen.

Es ist deutlich: Auch wenn wir den Spruch auf diese Weise "einordnen", verliert er nicht seine Schärfe - er ist anstößig und herausfordend, und er wird es auch bleiben. Aber unsere Überlegungen könnten dabei helfen, das Wort Jesu differenzierter aufzunehmen. Wichtig wäre da zunächst, daß von einem speziellen Einzelfall die Rede ist und nicht von einer konkreten Weisung für jedermann.

Dennoch will das Wort auf seine Weise alle, die sich Jünger Jesu nennen, ansprechen. So könnte es zum Beispiel unser bisweilen etwas zu harmloses Jesus-Bild korrigieren: daß er nicht der milde Menschenfreund war, von dem nur sanfte Worte und keinerlei Anspruch zu erwarten ist. Es könnte uns einen Jesus vor Augen stellen, der uns auch heute noch zu provozieren und aus der Reserve eines ausbalancierten Christentums zu locken vermag.

Denn in dem Spruch von Toten, die ihre Toten begraben sollen, geht es nicht mehr um unsere üblichen "religiösen Fragen": ob man einer Kirche zugehört oder nicht, ob man aktiv ist oder nicht. Hier geht es darum, wem wir nachfolgen, woran wir uns binden, wieviel wir unseren Hoffnungen zutrauen und wie sehr wir uns von dem, was wir erhoffen, jetzt schon in Anspruch nehmen lassen.

Prof. Claus-Peter März, Theologische Fakultät Erfurt