Gerechte und Frevler

Bischof Neymeyr:
Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn, ich möchte Ihnen Frau Dr. Ulrike Lynn vorstellen. Sie stammt aus Erfurt, hat in Berlin Sprachwissenschaften studiert und ist jetzt die Beauftragte der katholischen Kirche für die europäische Kulturhauptstadt 2025, die überraschenderweise nicht Erfurt ist, sondern Chemnitz.

Dr. Lynn:
Und neben mir steht – wahrscheinlich vielen von Ihnen bekannt – Bischof Dr. Ulrich Neymeyr. Seit 2014 ist er Bischof von Erfurt, stammt aber überraschenderweise gar nicht aus Erfurt, sondern aus Mainz.

Bischof Neymeyr:
In dem langen Psalm 37, den wir eben gehört haben und der in seiner ganzen Länge auf den Domstufen liegt, war ganz viel von Frevlern und von Gerechten die Rede. Das sind Begriffe, die wir eigentlich in unserer alltäglichen Sprache nicht verwenden. An Sie als Sprachwissenschaftlerin: Was sind Frevler und was sind Gerechte?

Dr. Lynn:
Unter Gerechtigkeit können wir uns wahrscheinlich alle etwas vorstellen. Gerechte haben ein faires und ausgewogenes Wertesystem, nach dem sie handeln. Und sie erwarten, oder hoffen, dass alle anderen daran Maß nehmen.
Frevler dagegen scheinen nur ihren eigenen Vorteil im Sinn zu haben. Heutzutage sagt niemand mehr Frevler zu jemandem, der egozentrisch oder sogar mutwillig böse handelt, also: Böses im Sinn hat.
Ich habe mal im Synonym-Wörterbuch nachgeschlagen. Andere Bezeichnungen für Frevler sind Übeltäter oder Missetäter, aber auch das sagt im Alltag ja kaum jemand mehr.
In der einfachen Sprache – wir haben es eben gehört – ist es mit böse Menschen übersetzt … in jedem Falle können wir die Frevler Sünder nennen.

Bischof Neymeyr:
Das hilft weiter. Der Psalm 37 beschreibt den Gerechten als hilfsbereiten und netten Menschen. Da heißt es:
Der Gerechte ist gütig und hilft.
Er ist gütig und leiht aus.
Er ist lauter und redlich.
Das Verhalten des Frevlers beschreibt der Psalm 37 ziemlich martialisch:
Er sinnt auf Ränke gegen den Gerechten.
Er hat das Schwert gezückt und den Bogen gespannt.
Er will die Armen und Elenden hinschlachten.
Er borgt und erstattet nicht.
Er belauert die Gerechten und versucht sie zu töten.
Das sind schon ziemlich krasse Verhaltensweisen! Ich frage mich, ob die Welt tatsächlich in Gerechte und Frevler eingeteilt ist? Gibt es auf der einen Seite Menschen, die nur gütig und selbstlos sind, die nichts anderes kennen als Friedfertigkeit und Versöhnungsbereitschaft? Und gibt es auf der anderen Seite Menschen, die nur gemein und habsüchtig sind, die sich nehmen, was sie kriegen können, wenn es sein muss mit Gewalt.

Dr. Lynn:
Ich glaube nicht, dass man diese beiden Lager so klar voneinander trennen kann. Kann ich mich selbst denn guten Gewissens abschotten von den Frevlern, den egozentrischen und auf ihren eigenen Vorteil bedachten Menschen? Kann ich mit dem Finger auf sie zeigen?
Mir steht es nicht zu, scharf zu urteilen. Schließlich bin ich auch nicht ohne Sünde.
In mir lebt beides; und es ist ein ewiges Bemühen, dem Guten, also der Treue, der Liebe, der Nachfolge, der Versöhnung, dem Frieden und der Gerechtigkeit mehr Raum in mir zu geben als allem anderen.
Das gelingt vielleicht nicht immer, aber je mehr ich mich bemühe, desto größer wird auch die Sehnsucht nach dem Guten in mir … und hat Auswirkungen auf mein Denken und Handeln.
Versöhnung, Frieden und Gerechtigkeit in meinem Herzen und meinem Leben immer mehr Raum zu geben, eröffnet Zukunft. Wenn mir, wenn uns, das gelingt, haben wir, wie im Psalm beschrieben, eine Zukunft des Friedens. Und das lohnt allen Einsatz!

Bischof Neymeyr:
Ich bin immer wieder dankbar für Menschen, die diese Friedenshoffnung mit Leben erfüllen. Hier in Erfurt gibt es in der Lorenzkirche seit dem 7. Dezember 1978 jeden Donnerstag um 17 Uhr – auch heute – ein ökumenisches Friedensgebet. Anlass war die Einführung von „Wehrkunde“ als Unterrichtsfach in der DDR. Im Herbst 1989 wurde das Friedensgebet zum Kristallisationspunkt für die Demonstrationen. Inspiration war und ist die Verheißung des alttestamentlichen Propheten Micha: Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden.

Dr. Lynn:
Und heute müssen wir hören, dass unser Land zu viel Geld für Soziales ausgegeben hat und zu wenig Geld für Rüstung.

Bischof Neymeyr:
Selbst wenn wir auf Ablehnung stoßen: Lassen wir uns nicht entmutigen im Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden. Wie brauchen ihn dringend im gesellschaftlichen und politischen Raum. Gerade jetzt braucht es diesen unseren Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit, denn Zukunft hat der Mensch des Friedens.