Der Heilige Albertus Magnus war der letzte Mensch, der das gesamte Wissen seiner Zeit im Kopf hatte. Heute haben wir alle Mühe, mit Hilfe künstlicher Intelligenz auf das Wissen unserer Zeit zuzugreifen. Verehrte Professorinnen und Professoren der katholisch-theologischen Fakultät, ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten mit der Unterstellung, dass es Ihnen nicht möglich ist, das gesamte Wissen sämtlicher theologischer Disziplinen parat zu haben, inklusive internationaler und interkonfessioneller Theologie, obwohl Sie im Vergleich zu Ihren Kollegen des Philosophisch-Theologischen Studiums Erfurt* nicht nur auf sämtliche Publikationen zugreifen können, sondern auch viele theologische Erkenntnisse über das Internet gewinnen können. Mit diesen einleitenden Gedanken möchte ich hinführen zu einem Ihrer großen Vorgänger und Professoren des Philosophisch-Theologischen Studiums Erfurt, Herrn Professor Dr. Heinz Schürmann, der am 11. Dezember 1999, also vor 25 Jahren verstorben ist.
Er wurde am 18. Januar 1913 in Bochum geboren und studierte Theologie von 1932-1938 in Paderborn und Tübingen. 1938 wurde er zum Priester geweiht und wirkte danach in verschiedenen Diasporagemeinden. 1946 wurde er zum Präfekten des Theologenkonvikts in Bad Driburg berufen. Dort bereitete er eine Promotion zur Mahlgestalt der Eucharistie vor, die er 1948 abschloss. Anschließend erarbeitete er seine Habilitationsschrift, mit der er 1952 in Münster habilitiert wurde. 1953 nahm er den Ruf auf den Lehrstuhl für Exegese und Theologie des Neuen Testaments am neu gegründeten Philosophisch-Theologischen Studium in Erfurt an und siedelte in die DDR über, was mit einem Wechsel der Staatsbürgerschaft verbunden war.
Seine Schüler erinnern sich gerne an die Lesekreise, in denen theologische Zeitschriften rezipiert und diskutiert wurden und an Diskussionsrunden mit oft heißen theologischen Debatten. Da die Hochschule kein eigenes Promotionsrecht besaß, wurden die Absolventen an der päpstlichen Universität Gregoriana promoviert, unter ihnen Bischof Joachim Wanke und Professor Claus-Peter März. Schwerpunkte seines Forschens und seiner Publikationen waren das Herrenmahl, das Lukas-Evangelium, die Gottes-Reich-Theologie und die Gestalt und das Geschick des Jesus von Nazareth. Obwohl er die Möglichkeit hatte, nach seiner Emeritierung wieder in die Bundesrepublik zu übersiedeln, blieb er bis zu seinem Tod in Erfurt.
Sein Schüler Claus-Peter März hat in einem Nachruf geschrieben: „Er war für die Erfurter Hochschule mit seiner tiefen spirituellen Verwurzelung im Evangelium, seine Offenheit für die Studierenden und seiner wissenschaftlichen Kompetenz ein Glücksfall. Durch viele persönliche Kontakte, Vorträge, Geistliche Begleitungen und seine für die Gemeinden bestimmten Schriften hat er weit über die Hochschule hinaus gewirkt und auch in vielen Gemeinden Spuren hinterlassen.“ (in: C. Breytenbach, R. Hoppe (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft nach 1945. Neukirchen-Vluyn 2008, S. 425)
Viele Bücher und Beiträge von Professor Schürmann wurden auch im Herder Verlag veröffentlicht. Besonders während meines Studiums habe ich manche seiner Publikationen mit großem Interesse und großem Gewinn gelesen. Bei der Vorbereitung dieser Predigt bin ich auf eine seiner ersten Publikationen gestoßen, die in das Jahr 1945 zurückreicht. Nach einem Wohnungsbrand standen ihm außer dem Neuen Testament fast keine Bücher mehr zur Verfügung. Das Büchlein „Worte des Herrn“ (Freiburg-Basel-Wien ³1968) umfasst eine kleine Auswahl von Herrenworten mit einem kurzen Kommentar. Zum Herrenwort, dass die Zeit erfüllt und das Reich Gottes nahe ist, schreibt Professor Schürmann: „Jesu Botschaft macht unsere Gegenwart zu einer Entscheidungszeit von denkbar größter Wichtigkeit: Zeitenwende ist, Lebenswende soll daraus werden! Völlige Umkehr ist verlangt – ein Mensch, der Gott nicht mehr den Rücken zukehrt, sondern nun entschlossen auf ihn zugeht. Das tut aber der, der sich Jesus zuwendet und seiner Botschaft glaubt.“ (S.13) Die Brisanz dieser Worte wird durch die aktuelle politische Diskussion um eine Zeitenwende unterstrichen und hervorgehoben.
Eine weitere Publikation von Professor Schürmann kann uns auch in unserer heutigen pastoralen Situation Wege weisen. An Ostern 1979 hat er eine kleine Orientierung für geistliche Berufe verfasst unter dem Titel „Die Mitte des Lebens finden“ (Freiburg-Basel-Wien 1979), die auch im Herder Verlag erschienen ist. In allen deutschen Diözesen – auch in unserem Bistum – wird in der Frage gerungen, wie die künftige Gestalt der Kirche sein kann. Nicht nur die Zahl der Priester, Diakone, Gemeindereferentinnen und Gemeindereferenten ist rückläufig, sondern auch die Zahl der Gläubigen. Offensichtlich führt uns der Heilige Geist zu einer Gestalt von Kirche, die Professor Schürmann schon im Jahr 1979, also vor 45 Jahren so beschrieben hat: „In 25 Jahren sieht die Kirche bei uns zu Lande ganz anders aus. Wir werden uns die Zukunft unserer Kirche vielleicht so vorstellen dürfen: relativ kompakte und auch mehr oder weniger bruderschaftliche Gemeinden noch in den Städten, nur verstreut einzelne Familien auf dem Land und in den massierten Wohnblocks der Großstädte.“ (S. 88) Hier spricht der Neutestamentler, der die Kraft kleiner christlichen Gemeinschaften kennt und ihnen auch für unsere Zeit die Hoffnungskraft des Glaubens und des Evangeliums zutraut.
Eine dritte Publikation aus dem Jahr 1983 kann auch für die heutige Theologie Impulse geben. Professor Schürmann hat sich immer wieder mit der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu beschäftigt und mit der Frage, wie Jesus seinen Tod selbst verstanden hat. In der Publikation „Gottes Reich – Jesu Geschick“ (Freiburg-Basel-Wien 1983) deutet er Jesu eigenes Verständnis von seinem Tod im Licht seiner Basiliea-Verkündigung: „Das Bemühen, „Jesu ureigenen Tod“ tiefer zu verstehen, bleibt theologisch immer aktuell. Das „Kreuzesthema“ wird heute nicht nur verständnislos weggeschoben; es wird gleichzeitig damit heute auch in erhöhter Aktualität „neu thematisch“ und wird gewiss die Theologie der Zukunft wesentlich bestimmen.“ (S. 16f.) Dies ist eine bleibende Mahnung und Erinnerung für alle, die Theologie treiben und das Evangelium verkünden: Wir dürfen nicht die Mitte dessen vergessen, was unseren christlichen Glauben und unsere christliche Hoffnung ausmacht, und wir dürfen nicht aufhören, darüber nachzudenken und davon zu sprechen. Es ist uns Christen bleibend aufgegeben, das älteste Osterevangelium immer wieder zu durchdringen und zu betrachten und den Gläubigen und Ungläubigen nahe zu bringen: „Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift.“ (1 Kor 15,3f.)
*1952 wurde das Priesterseminar und das Philosophisch-Theologische Studium in Erfurt gegründet. Es war die einzige Ausbildungsstätte für katholische Priester in der früheren DDR.