In der letzten Woche (am 29. Oktober) hatte Bischof Ulrich Neymeyr zu einem Pressegespräch eingeladen. Bei diesem ging es darum, den Zwischenstand der Untersuchungsergebnisse vorzustellen, die die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Priester und kirchliche Mitarbeiter im Bistum Erfurt (UAK) mit ihrer Arbeit erzielt hatten. Genau drei Jahre vorher, am 29. Oktober 2021, hatte die UAK sich konstituiert und ihre Arbeit aufgenommen.
Die UAK
Ihr gehören insgesamt sieben Männer und Frauen an. Die unabhängigen Experten wurden von der Thüringer Beauftragten für Kinderschutz, Staatssekretärin Julia Heese, benannt. Des Weiteren gehören ihr gemäß der „Ordnung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch im Bistum Erfurt“ zwei Vertreter des Bistums aus den Bereichen Recht und Archiv an. Zwei Betroffene, die sich nach einem öffentlichen Aufruf zur Mithilfe zur Mitarbeit bereit erklärt haben, sind ebenfalls Mitglieder der Kommission. Die UAK ist mit einer eigenen Seite auf der Bistumsseite präsent (www.bistum-erfurt.de/uak).
Die Onlineredaktion des Bistums nimmt auf die einzustellenden Inhalte keinerlei Einfluss. Eine hauptamtliche Fachkraft arbeitet der UAK zu (ebenso dem Bischöflichen Beraterstab).
Aufgaben der UAK
Die UAK hat die Aufgabe, zu erforschen, wie viele Fälle sexuellen Missbrauchs es im Bistum Erfurt gegeben hat, wie die Verantwortlichen mit den Betroffenen und den Beschuldigten umgegangen sind und ob es Strukturen gibt, die sexuellen Missbrauch ermöglichen, erleichtern oder dessen Aufdeckung erschweren.
Die Kommission hat alle aktenkundigen Fälle bis zum Datum ihrer Konstituierung (29.10.2021) untersucht, wofür ihr alle relevanten Akten uneingeschränkt zur Verfügung standen.
Mit allen Verdachtsfällen, die danach bekannt wurden bzw. werden, befasst sich der Bischöfliche Beraterstab.
Bischöflicher Beraterstab
Alle Verdachtsfälle werden im Bischöflichen Beraterstab gemeinsam mit dem Bischof beraten und das weitere Vorgehen entsprechend der „Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger und schutz- und hilfebedürftiger Erwachsener durch Kleriker und sonstige Beschäftigte im kirchlichen Dienst“ beschlossen und begleitet. Zum Bischöflichen Beraterstab gehören eine Juristin, eine Sozialpädagogin, ein Arzt und ein Psychiater sowie die zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bischöflichen Ordinariat.
Zwei Unabhängige Ansprechpersonen stehen bei Verdachtsfällen Betroffenen und Zeugen/Zeuginnen für vertrauliche Gespräche und die Vermittlung von Hilfsangeboten zur Verfügung. Darüber hinaus sind sie Ansprechpersonen für die Entgegennahme von Anträgen auf Leistungen in Anerkennung des Leids, das Opfern sexualisierter Gewalt zugefügt wurde.
Vorgehensweise der UAK
Innerhalb der UAK richtete diese eine fünfköpfige Lesegruppe ein, die sich monatlich an jeweils zwei Tagen in Erfurt trifft, um alle zur Verfügung stehenden relevanten Personal- und Sachakten und Unterlagen zu sichten und auszuwerten. Dabei lesen alle Lesegruppenmitglieder jeweils alle Akten.
Zu jedem Beschuldigten wurde eine Hauptakte angelegt; für jede/n Betroffenen eine Unterakte.
Da die vorliegenden Personalakten keine Seitenzahlen haben, ist ihre Vollständigkeit nicht feststellbar. Auch weitere Berichte (z.B. Visitationsberichte, Akten zu Heimen, Orts- und Stellenakten) wurden überwiegend nicht systematisch geführt, so dass diese keine Gewähr geben, vollständig zu informieren.
Zahlen und Fakten, die sich aus dem Aktenbestand ergeben
Mit Stand 29. Oktober 2024 gibt es 64 Beschuldigte (davon 25 Kleriker) und 78 Betroffene. Bei Letzteren überwiegt die Zahl der männlichen Betroffenen die der weiblichen. Die UAK geht davon aus, dass die Zahl der Betroffenen wesentlich höher liegt. So habe in einem Fall der Beschuldigte selbst von 30 – 40 Betroffenen gesprochen. Bis heute haben sich von diesen jedoch nur zehn beim Bistum gemeldet.
„Die den Beschuldigten vorgeworfenen Taten umfassen ein breites Spektrum, beginnend mit sog. Grenzverletzungen bis hin zu schweren und schwersten Sexualstraftaten. Die Fälle von sog. Grenzverletzungen, z.B. durch unangemessen sexualisierte Sprache, bedrängende Fragen oder Berührungen, bewegen sich – nach unserem bisherigen Kenntnisstand – im niedrigen einstelligen Bereich. Deutlich häufiger geht es – nach heutigem Rechts-Standard – um sexuelle Belästigung, teilweise auch um besonders schwere Fälle von sexueller Belästigung. Den weitaus größten Anteil – wir gehen hier aktuell von 25 Fällen aus – haben sexuelle Übergriffe, und in sieben Fällen berichten Betroffene, sie seien vergewaltigt worden.“ (Dr. Ulrike Brune, Vorsitzende der UAK, in ihrem Statement während des Pressegespräches)
Überdurchschnittliche viele Betroffene gab es in einem Kinderheim, einem Waisenhaus oder Altersheim. Zudem waren auch die dort tätigen Ordensschwestern nicht selten in die Missbrauchshandlungen involviert.
„Immer wieder stellen wir fest, dass Geistliche, aber auch im kirchlichen Dienst stehende Nichtkleriker, die enge Anbindung an Minderjährige suchen, sie als „gute Freunde“ bezeichnen, reichlich beschenken, zu sich nach Hause einladen und mit ihnen Ausflüge unternehmen, sehr gern gehen sie auch mit ihnen in die Sauna. Sie nutzen das Interesse an Bindung, das Vertrauen und oft auch die Einsamkeit der Minderjährigen aus, die dann nicht mehr angemessen reagieren können, wenn der so freundliche Herr Pfarrer plötzlich seine wahren Absichten offenbart.“ (Dr. Ulrike Brune, Vorsitzende der UAK, in ihrem Statement während des Pressegespräches)
Die UAK konstatiert, dass seitens des Bistums zumindest in der Vergangenheit in aller Regel nicht adäquat auf bekanntgewordenes Fehlverhalten seiner Kleriker reagiert wurde.
Der stellvertretende Vorsitzende der UAK, Prof. em. Dr. Michael Winkler gab hinsichtlich der Identifikation von Strukturen und Verantwortlichen im Bistum Erfurt, die sexuellen Missbrauch ermöglichen, erleichtern oder dessen Aufdeckung erschwert haben, einen differenzierten Einblick. Er verwies auf die besondere Lage des heutigen Bistums, dessen Teile bis zur Gründung des Bistums 1994 zu den Bistümern Würzburg und Fulda gehörten. Es habe eine „Struktur der Strukturlosigkeit bei den kirchlichen Zuständigkeiten“ gegeben.
„Aufgrund dieser besonderen Situation ergab sich – nach unseren Untersuchungen – eine fast ungewöhnliche Unabhängigkeit und Autonomie der Priester und der für die Gemeinden zuständigen Pfarrer. Diese wurde Unabhängigkeit wurde verstärkt durch die grundsätzliche Diasporasituation sowie die Besonderheiten, die sich beispielsweise aus der Lage von Kirchensprengel und Gemeinden in Sperrgebieten ergeben haben. Sie führten dazu, dass die Priester eine hohe Selbständigkeit in der Lebensführung erreichten, dann wiederum in engen Beziehungen zu ihrer Gemeinde standen. Das wiederum bedeutete allerdings, dass die kirchlichen Strukturen und die Kontrolle durch Verantwortliche der Bistümer schwach geblieben sind, dass aber zugleich die Position der Priester in den Gemeinden sehr stark und ihr Ansehen in diesen sehr hoch war. Mit dem Effekt, dass mögliche Vorwürfe und Beschuldigungen durch die Gemeinden zu Lasten möglicher Betroffener ignoriert wurden – und die Betroffenen keine Chance hatten, sich Gehör zu verschaffen. Sie steckten buchstäblich in einer Falle. Verstärkend kamen noch die grundsätzlich autoritären Erziehungsstrukturen hinzu, so dass Übergriffe und Missbrauch regelmäßig mit Drohungen verbunden wurden, durch die die Kinder und Jugendlichen massiv eingeschüchtert wurden. Zudem darf man vor allem für den Zeitraum bis 1990 nicht übersehen, dass in pädagogischen Kontexten häufig ein Klima der Gewalt herrschte, gefährlich insbesondere für junge Menschen mit geringer eigener Stärke…Vor allem Kinder, die etwa dauerhaft und zudem über das Wochenende in den Einrichtungen lebten, waren besonders gefährdet, da sie in den Einrichtungen selbst sogar in der Kindergruppe einen niederen Status zugeschrieben bekamen. Man muss – nach den uns vorliegenden Akten – für diese allerdings quantitativ kleine Gruppe davon ausgehen, dass sie einem Klima der Gewalt und des Missbrauchs ausgesetzt waren; dieses Klima wurde übrigens auch von den als Erzieherinnen tätigen Schwestern geschaffen.“ (Prof. em. Dr. Michael Winkler, stellv. Vorsitzender der UAK, in seinem Statement während des Pressegespräches)
Zwischen 1994 und (spätestens) 2010 kann eine wachsende Sensibilität der Verantwortlichen für das Thema festgestellt werden, wobei zunächst der Gedanke des Schutzes der Kirche vor möglicher öffentlicher Kritik überwog. Auf dramatische Weise unterblieb in einzelnen Fällen die Information über mögliche Täter und Beschuldigte zwischen den Bistümern.
„In der Summe aber kann für den gesamten Zeitraum nicht von einem strukturellen Versagen gesprochen werden, selbst wenn die üblicherweise gegebenen Indizien wie häufige Wechsel der Pfarrstellen auffallen. Nach der Aktenlage sprechen diese für Konflikte zwischen Priestern und Gemeinden (wie erwachsenen Mitgliedern in diesen). Hinweise auf Netzwerke, wie sie häufiger bei Delikten mit pädophilen Motivlagen anzutreffen sind, finden sich nicht; ein möglicher Verdachtsfall erscheint eher als Ausdruck der Nähe und Bekanntschaft der Beteiligten zu interpretieren, die sich aufgrund der Diaspora-Situation ergeben haben.“ (Prof. em. Dr. Michael Winkler, stellv. Vorsitzender der UAK, in seinem Statement während des Pressegespräches)
Dennoch bleiben die Probleme, die sich aufgrund der schwierigen und oft unübersichtlichen Aktenlage für die Nachforschungen ergeben haben.
„Immerhin darf jedoch ebenfalls ausdrücklich hervorgehoben werden, dass die insgesamt – im Vergleich zu anderen Bistümern – geringe Zahl von Fällen sowie die inzwischen möglich gewordenen Rekonstruktionen der Fallverläufe für die Erfurter Kommission in besonderem Maße die Chance sich ergeben hat, individuelle Falldynamiken aufzudecken. Das ist ganz besonders wichtig im Blick auf die Erkenntnis individueller Betroffenheit bei den Opfern, also bei der Frage nach besonders schutzbedürftigen Kindern und Jugendlichen. Sowie dann in dem Blick auf das mögliche Zusammenspiel von einzelnen Täterpersönlichkeiten mit ihren Dispositionen und den begünstigenden sozialen Kontexten, einschließlich der in der Kirche gegebenen Handlungsweisen. Es zeichnet sich jetzt schon ab, dass dadurch deutlich mehr Möglichkeiten insbesondere von Sensibilisierung und Prävention entstehen, als dies in einschlägigen Studien mit hohen Fallzahlen sich bislang abzeichnet.“ (Prof. em. Dr. Michael Winkler, stellv. Vorsitzender der UAK, in seinem Statement während des Pressegespräches)
Berichterstattung
Gemäß der „Ordnung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch im Bistum Erfurt“ berichtet die UAK jährlich dem Bischof in schriftlicher Form. Unter Beachtung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen stellt dieser ein Exemplar den Landes- und Bundesbeauftragten für Kinderschutz sowie der Deutschen Bischofskonferenz zur Verfügung.
Hinsichtlich der Veröffentlichung des Jahresberichts auf der Internetseite der UAK gibt es Unstimmigkeiten, die während des Pressegesprächs ins Wort gehoben wurden. Bischof Ulrich Neymeyr stimmte aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen der Veröffentlichung eines ungekürzten Jahresberichts nicht zu. Inzwischen wurde eine Einigung erzielt und der um eine Passage gekürzte Jahresbericht auf die Seite der UAK gestellt. Die Kürzung schmälert jedoch nicht die Vergehen des Täters oder die Darstellung des Umgangs seitens des Bistums mit ihm.
Die Aufarbeitungskommission wird noch zwei weitere Jahre tätig sein, um dann einen Abschlussbericht vorlegen zu können.
Dabei ist allen bewusst, dass Aufarbeitung keinen Schlusspunkt haben kann und bleibende Aufgabe der katholischen Kirche und der ganzen Gesellschaft ist.
Nach wie vor ergeht die Bitte an Betroffene, die zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt an Minderjährigen und schutz- und hilfebedürftigen Erwachsenen durch Kleriker und sonstige Beschäftigte im kirchlichen Dienst beitragen können, sich bei den Unabhängigen Ansprechpersonen im Bistum zu melden