Was heute verteidigt werden muss

Liebe Wallfahrer,

jedes Jahr hören Sie bei der Männerwallfahrt an Christi Himmelfahrt im Tagesgebet zu Beginn der Eucharistiefeier den Glaubenssatz: „In der Himmelfahrt deines Sohnes hast du den Menschen erhöht.“ Das heißt, dass die Bedeutung, die Würde des Menschen, die nach unserem Grundgesetz unantastbar ist, durch die Himmelfahrt Christi erhöht, also gesteigert wurde. Eine Preiserhöhung steigert den Wert eines Produkts. Die Himmelfahrt Christi steigert die Würde des Menschen. Denn in der Auferstehung und Himmelfahrt hat Jesus seine menschliche Natur nicht abgestreift wie der Schmetterling seinen Kokon, er hat sie vielmehr behalten und mitgenommen ins Reich des himmlischen Vaters. Eine größere Erhöhung des Menschen ist nicht denkbar. Deswegen ist Christi Himmelfahrt auch der Tag der Menschenwürde. Und um diese Menschenwürde müssen wir Christen heute kämpfen.

Die Lehre aus der NS-Diktatur

Der Mensch ist das höchste Gut auf dieser Welt – zumindest in den Augen unseres Grundgesetzes: Gleich zu Beginn in Artikel 1 des Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Die besondere Würde, die jedem Menschen zukommt, haben schon die Griechen gelehrt. Artikel 1 unseres Grundgesetzes ist die Lehre aus der NS-Diktatur, in der die Würde vieler Menschen mit Füßen getreten wurde: Juden, Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle, Menschen mit anderer Hautfarbe, sie galten nicht als Menschen. Ihnen wurde eine Nummer auf den Arm tätowiert. Die Menschenwürde wurde ihnen abgesprochen. Heute gilt die Weisung des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Jeder Mensch ist wertvoll, weil er ein Mensch ist, unabhängig davon, wie er aussieht, was er leisten kann, wie er lebt, auch wenn er ein Verbrecher ist. Justizvollzugsanstalten müssen Orte der Menschenwürde sein. Ein Mensch darf auch nicht nach seinem Nutzen, nach seinem Gebrauchswert beurteilt werden. Das Wort „Menschenmaterial“ wurde zu Recht zum Unwort des 20. Jahrhunderts gewählt. Der Begriff „personelle Ressourcen“ ist nicht viel besser. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser Grundsatz gilt in unserem Land seit dem 23. Mai 1949, seit fast 75 Jahren.

Der Satz von der unantastbaren Würde des Menschen muss heute verteidigt werden

Und doch muss der Satz von der unantastbaren Würde des Menschen heute verteidigt werden – erst recht von uns Christen, denn nach unserer Überzeugung wurde in der Himmelfahrt Christi der Mensch erhöht. Seit der Himmelfahrt Christi gründet die Würde des Menschen nicht mehr nur auf der Gottebenbildlichkeit des Menschen, sondern sie beruht auf unserer Überzeugung, dass mit der menschlichen Natur des Jesus von Nazareth in seiner Himmelfahrt der Mensch insgesamt erhöht wurde.

Auch ausländische Menschen sind Menschen!

Es geht nicht nur um die Würde geflüchteter Menschen, aber es geht auch um ihre Würde. Wir müssen sie wie Menschen behandeln und über sie reden wie über Menschen. Sicher müssen sich die verantwortlichen Politiker fragen, ob wir so vielen Menschen, die zu uns kommen, gerecht werden können. Haben wir dazu genügend Integrationshelfer und Deutschlehrerinnen? Auch das Asylrecht muss verteidigt werden. Es ist ein heiliges Recht und muss vor Missbrauch geschützt werden. Zur Menschenwürde gehört auch, dass Menschen ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Das muss möglich sein und dazu muss es auch deutliche Anreize geben. Wir brauchen Arbeitskräfte in vielen Bereichen unserer Wirtschaft und in der Pflege. Das betrifft nicht nur geflüchtete Menschen, sondern auch die vielen Menschen, die aus osteuropäischen Ländern zu uns kommen, weil sie hier für ihre Arbeit besser entlohnt werden. Es kann doch nicht sein, dass wir über Osteuropäer reden wie die Nazis! In jedem Fall müssen wir für den simplen Satz eintreten: Auch ausländische Menschen sind Menschen! Sie haben Menschenwürde, ja diese Menschenwürde wurde in der Himmelfahrt Christi erhöht!

Hautfarbe darf nicht zur Herabsetzung führen!

Wir müssen auch um die Würde von Menschen mit anderer Hautfarbe kämpfen. Viele leben ja schon lange hier oder haben deutsche Staatsangehörigkeit. Die Hautfarbe zeigt die Buntheit der Schöpfung, die Freude des Schöpfergottes an dieser Vielfalt, aber sie darf doch nicht zu Herabsetzung führen! Ich danke allen, die sich um Integration bemühen – besonders hier im Eichsfeld und ich danke allen, die in Hilfsinitiativen und Freundeskreisen in aller Welt Hilfe leisten und Gemeinsamkeit leben. Das ist tatkräftiger Einsatz für Menschenwürde!

Lebensschutz von Anfang an!

Und wir müssen auch um die Würde des Menschen von Anfang bis zum Ende seines Lebens kämpfen. Der Kampf gegen Schwangerschaftsabbrüche darf sich nicht im politischen Engagement erschöpfen. Da ist unsere Botschaft: Es gibt keine abgestufte Menschenwürde! Der Lebensschutz fängt damit an, einen werdenden Menschen willkommen zu heißen, auch wenn er kein Wunschkind ist. In meinem Fastenhirtenbrief habe ich geschrieben: „An einem Schwangerschaftsabbruch gibt es viele Beteiligte – in der Familie, im Betrieb, im Dorf. Da kann es sein, dass Großeltern gefordert sind, sich um ein Enkelkind zu kümmern, dessen Geburt nicht geplant war. Da kann es im Betrieb erforderlich sein, dass viele mithelfen, damit eine Mitarbeiterin Mutterschutz und Elternzeit nehmen kann. Jede Schwangerschaft sollte ein Grund zur Freude sein: Gott hat einen neuen Menschen geschaffen!“ Ich habe sehr viel nachdenkliche Zustimmung zu diesem Satz gehört. Nun fragen viele Katholiken, wer in der Politik unseres Landes für Lebensschutz und für das Verbot der Abtreibung steht. Bitte hinterfragen sie kritisch die Motivation dieser Politiker: Geht es ihnen um die ungeborenen Kinder oder um den deutschen Volkskörper, dem durch Abtreibungen jährlich mehr als 100.000 nicht geborene Kinder fehlen?
Dass junge Eltern sich scheuen, ein Kind zur Welt zu bringen, das vielleicht behindert sein wird, zeigt, wie wichtig die Integration ist, nicht nur für die behinderten Menschen, sondern vor allem für die, die dem Augenschein nach nicht behindert sind. Jeder Mensch müsste zu jemandem Kontakt haben, der eine Behinderung hat. Das ist keine Inklusionsideologie, sondern gelebte Menschenwürde.

Auch Kirche muss lernen

Übrigens müssen wir auch in unserer Kirche lernen, die Menschenwürde von Menschen mit anderer sexueller Orientierung oder Identität zu wahren. In der Erklärung des vatikanischen Glaubensdikasteriums „dignitas infinita“ vom 2. April 2024 heißt es: „Die Kirche möchte vor allem bekräftigen, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner sexuellen Orientierung, in seiner Würde geachtet und mit Respekt aufgenommen werden soll und sorgsam zu  vermeiden ist, ihn in irgendeiner Weise ungerecht zurückzusetzen oder ihm gar mit Aggression und Gewalt zu begegnen. Aus diesem Grund muss es als Verstoß gegen die Menschenwürde  angeprangert werden, dass mancherorts nicht wenige Menschen allein aufgrund ihrer sexuellen Orientierung inhaftiert, gefoltert und sogar des Lebens beraubt werden.“ (Nr. 55) Es gibt Menschen, die sich mehr zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlen. Wer Homosexualität vehement ablehnt, der sollte darauf gefasst sein, dass eines Tages sein Sohn kommt und sagt: Ich lebe mit einem Mann zusammen. Und Menschen, die sich ihrer eigenen sexuellen Identität nicht sicher sind, brauchen Akzeptanz – was nicht heißt, dass alle Kinder sich prüfen müssen, ob sie ein Junge oder ein Mädchen sind.

„Ich verneige mich vor Ihnen“

Liebe Wallfahrer, der Einsatz für die Würde aller Menschen hängt unmittelbar mit dem Fest Christi Himmelfahrt zusammen, an dem Christus mit seiner Himmelfahrt den Menschen erhöht hat. Sie wissen, dass wir ostdeutschen Bischöfe in einem gemeinsamen Wort im Januar zum Einsatz für die Demokratie aufgerufen haben, die wir gefährdet sehen. Viele von Ihnen haben 1989 und 1990 mit Kerzen in der Hand für die Demokratie gekämpft. Ich verneige mich vor Ihnen und rufe Ihnen gerade in diesen bewegten Zeiten zu: Setzen wir uns für die Würde aller Menschen ein! Jesus Christus, der unsere Menschennatur mit seiner göttlichen Natur vereint hat, motiviert uns dazu. „Was ihr dem geringsten Menschen getan habt, das habt ihr mir getan.“

 

Männerwallfahrt 2024