Die Geduld wiederentdecken

Am heutigen Sonntag (25. Mai) fand die Bittwallfahrt zum Hülfensberg statt. Wegen des Regens wurde der Wallfahrtsgottsgottesdienst mit Bischof Ulrich Neymeyr in der Klosterkirche gefeiert.

Das diesjährige Wallfahrtsmotto greift den Sonnengesang des Heiligen Franziskus auf, der in diesem Jahr 800 Jahre alt wird. Der Sonnengesang des Heiligen Franziskus ist ein großes Loblied auf die Schöpfung und auf den Schöpfer. Der Sonnengesang, der auch in unserem Gotteslob abgedruckt ist, erscheint auf den ersten Blick idealisierend oder idyllisch, wenn Franziskus dem Schöpfer für Schwester Mond und die Sterne dankt, für den Bruder Wind und die Schwester Wasser, für den Bruder Feuer und die Schwester Erde. Aber wir wissen, dass Franziskus todkrank war, als er dieses Gebet schrieb. Er lag in einer Hütte aus Strohmatten und konnte wegen einer Augenkrankheit kaum noch sehen. Der außergewöhnliche Text des Sonnengesangs wurde also nicht an einem sonnigen Frühlingstag in romantischer Stimmung geschrieben, sondern brach hervor aus Krankheit und Not. Auch in düsteren Tagen sieht der Heilige Franziskus von Assisi den gesamten Kosmos und alles, was in ihm geschieht, im Licht der Erlösung – ohne dabei den Schrei der verwundeten Menschheit und der verwundeten Schöpfung zu überhören.

 „die Natur als ein prächtiges Buch…erkennen, in dem Gott zu uns spricht“

Im Jahr 2015 hat Papst Franziskus eine bedeutende Enzyklika zu den ökologischen Herausforderungen unserer Zeit geschrieben mit dem Titel „Laudato Si“. Sie beginnt mit den Worten „Laudato Si, mi Signore – Gelobt seist du, mein Herr“, so sang der Heilige Franziskus von Assisi. In diesem schönen Lobgesang erinnert er uns daran, dass unser gemeinsames Haus wie eine Schwester ist, mit der wir das Leben teilen, und wie eine schöne Mutter, die uns in ihre Arme schließt.“ Der Heilige Vater mahnte dazu, nach dem Vorbild des Heiligen Franziskus „die Natur als ein prächtiges Buch zu erkennen, in dem Gott zu uns spricht und einen Abglanz seiner Schönheit und Güte aufscheinen lässt. (…) Deshalb forderte Franziskus von Assisi, im Konvent immer einen Teil des Gartens unbebaut zu lassen, damit dort die wilden Kräuter wüchsen und die, welche sie bewunderten, ihren Blick zu Gott, dem Schöpfer solcher Schönheit erheben könnten.“ (Nr. 12) Papst Franziskus schreibt weiter: „Franziskus von Assisi war ein Mystiker und ein Pilger, der in Einfachheit und in einer wunderbaren Harmonie mit Gott, mit den anderen, mit der Natur und mit sich selbst lebte. An ihm wird man gewahr, bis zu welchem Punkt die Sorge um die Natur, die Gerechtigkeit gegenüber den Armen, das Engagement für die Gesellschaft und der innere Friede untrennbar miteinander verbunden sind.“ (Nr. 10)  Die Verantwortlichen der sechs großen franziskanischen Orden haben in einer Handreichung zum 800jährigen Jubiläum des Sonnengesangs geschrieben: „Wenn wir als franziskanische Familie das Jubiläum des Sonnengesangs feiern, führt uns das zu einer radikalen Veränderung unserer Beziehung zur Schöpfung, die darin besteht, den Besitz durch die Sorge für unser gemeinsames Haus zu ersetzen. In der Tat muss jeder von uns aufrichtig auf diese Fragen antworten: Wie will ich meine Beziehung zu anderen Geschöpfen leben? Als ein Herrscher, der sich das Recht anmaßt, mit ihnen zu machen, was er will? Als Verbraucher von Ressourcen, der in ihnen eine Möglichkeit sieht, sich einen Vorteil zu verschaffen? Oder als ein Bruder, der vor der Schöpfung innehält, ihre Schönheit bewundert und sich um das Leben kümmert.“ (Homepage der deutschen Franziskanerprovinz)

Gott loben durch Verzeihen

Die Franziskaner des Hülfenbergs haben für unsere Wallfahrt auf den Hülfensberg einen Abschnitt aus der achten Strophe des Sonnengesangs gewählt: „Gelobt seist du, mein Herr, durch jene, die verzeihen, um deiner Liebe willen.“ Angesichts der vielen Kriege, Krisen und gefährlichen Konflikte in unserer Welt ist das Gebet um Versöhnung dringender denn je. Wahrscheinlich hat der Heilige Franziskus von Assisi die achte Strophe über Versöhnung und Frieden aus konkretem Anlass verfasst: Es war ein Streit zwischen dem Bischof von Assisi und dem Bürgermeister ausgebrochen. Franziskus bat seine Mitbrüder, den Sonnengesang mit der achten Strophe vorzusingen, wodurch der Konflikt beigelegt wurde. Auch heute dürfen wir nicht aufhören, für Versöhnung zu arbeiten und Versöhnung für möglich zu halten.

Als am ersten Advent im vergangenen Jahr die Wiedereröffnung der Basilika Notre Dame in Paris begangen wurde, erinnerte der französische Präsident daran, dass in dieser Kirche die Befreiung Frankreichs von der deutschen Besatzung gefeiert wurde. Die Besatzung war ein brutaler Eingriff in die Souveränität unseres Nachbarlandes, der vielen Menschen das Leben kostete. Trotzdem saß bei der Wiedereröffnung der Basilika 80 Jahre später unser Bundespräsident in der zweiten Reihe. Versöhnung unter Völkern ist möglich, Versöhnung der Menschen auch. Hören wir nicht auf, dafür zu beten, und uns dafür einzusetzen!

Die Eile ist eine Konstante geworden

Das Jahr 2025 ist ein Heiliges Jahr, das Papst Franziskus unter das Leitwort „Pilger der Hoffnung“ gestellt hat. In der Verkündigungsbulle des Heiligen Jahres zitiert Papst Franziskus aus dem Römerbrief des Apostels Paulus: „Wir wissen: Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung Hoffnung.“ (Röm 5,4) Der Papst schreibt dazu: „In schwierigen Situationen erblickt man durch die Dunkelheit hindurch ein Licht. Man entdeckt, wie die Verkündigung von der Kraft getragen wird, die aus dem Kreuz und der Auferstehung Christi strömt. Und dies führt zur Entwicklung einer Tugend, die eng mit der Hoffnung verbunden ist: der Geduld. Wir haben uns mittlerweile daran gewöhnt, alles sofort zu wollen in einer Welt, in der die Eile eine Konstante geworden ist. Man hat keine Zeit mehr, sich zu treffen und selbst in der Familie wird es oft schwierig zusammenzukommen und in Ruhe miteinander zu reden. Die Geduld ist durch die Eile vertrieben worden und das fügt den Menschen großen Schaden zu.“ (Nr. 4) In diesem Zusammenhang kommt der Heilige Vater auch auf den Sonnengesang des Heiligen Franziskus zu sprechen: „Wenn wir noch in der Lage wären, die Schöpfung zu bestaunen, könnten wir verstehen, wie entscheidend die Geduld ist. Den Wechsel der Jahreszeiten mit ihren jeweiligen Früchten abwarten; das Leben der Tiere und ihre Entwicklungszyklen beobachten; den schlichten Blick des Heiligen Franziskus besitzen, der in seinem vor genau 800 Jahren verfassten Sonnengesang die Schöpfung als eine große Familie wahrnahm und Sonne und Mond „Bruder“ und „Schwester“ nannte. Die Geduld wieder zu entdecken ist gut für uns und für die anderen.“ (Nr. 4)

Fotos: Martin Hoffmeier