Heute möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf einen der Apostel richten, der am Letzten Abendmahl teilgenommen hat: Judas Iskariot. In den Apostellisten des Markus- und des Matthäusevangeliums wird er am Schluss erwähnt mit dem Zusatz, „der ihn dann verraten hat“ (Mk 3,19; Mt 10,4). Unendlich viele Theologen haben über ihn nachgedacht und sein Leben hat viele Künstler inspiriert. In Deutschland wird bis heute kein Junge Judas genannt, auch wenn es vom Standesamt nicht verboten ist. Die Herkunft des Namens Iskariot ist umstritten. Manche erklären diesen Namensteil mit dem aramäischen Wort schaqar für lügen oder sakar für ausliefern. Meist wird aber im Anschluss an Johannes Chrysosthomos vermutet, dass der Name auf den israelischen Ort Kerijot zurückzuführen ist, der im Buch Josua erwähnt wird.
Wenn heute im Abendmahlsdienst am Gründonnerstag der Blick auf Judas Iskariot fällt, stellt sich die Frage, ob er während der Einsetzung des Sakraments der Eucharistie noch anwesend war, oder ob er vorher gegangen ist. Die Überlieferung der Evangelien ist in dieser Frage nicht eindeutig. Die Evangelisten Matthäus und Markus berichten zunächst von der Ankündigung des Herrn: „Einer von euch wird mich ausliefern.“ (Mt 26,20; Mk 14,17) Nach der Überlieferung des Matthäusevangeliums fragt Judas: „Bin ich es etwa, Rabbi?“ (Mt 20,22) und Jesus antwortet ihm: „Du sagst es.“ (Mt 20.25) Im Anschluss daran berichten die Evangelisten Matthäus und Markus von den Worten Jesu über das Brot und über den Kelch, die in jeder Heiligen Messe wiederholt werden. Man kann daraus schließen, dass Judas Iskariot, nachdem er als Verräter entlarvt war, gegangen ist und während der Einsetzungsworte nicht mehr am Abendmahlstisch saß.
Der Evangelist Lukas berichtet dagegen zuerst davon, dass Jesus über das Brot gesagt hat: „Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.“ (Lk 22,19) und über den Kelch: „Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.“ (Lk 22,20) Und dass er erst anschließend prophezeit hat, dass derjenige, der ihn ausliefern wird, mit am Tisch sitzt. Das legt die Vermutung nah, dass Judas Iskariot noch am Tisch saß. Das Johannes-Evangelium setzt den Einsetzungsbericht als bekannt voraus und schreibt dazu nur: „Es fand ein Mahl statt.“ (Joh 13,2) Allerdings berichtet auch der Evangelist Johannes davon, dass Jesus nach der Fußwaschung prophezeite: „Einer von euch wird mich ausliefern. Der ist es, dem ich den Bissen Brot, den ich eintauche, geben werde. Dann tauchte er das Brot ein, nahm es und gab es Judas, dem Sohn des Simon Iskariot.“ (Joh 13,26) Es ist allerdings ungewiss, ob dieser Bissen Brot das eucharistische Brot war. Jedenfalls bleibt nach der Überlieferung der Evangelien die Frage offen, ob Judas Iskariot während der Einsetzung des Sakramentes der Eucharistie noch am Abendmahlstisch saß, oder ob er bereits gegangen war.
Vielleicht hilft ein Blick auf die Person des Judas Iskariot. Der 1968 verstorbene Priester, Theologe und Religionsphilosoph Romano Guardini beschreibt in seinem Buch „Der Herr“ sehr eindrücklich die Person des Judas Iskariot: „Judas muss mit einer wirklichen Bereitschaft zum Glauben und zur Nachfolge gekommen sein (…). Er war zum Apostel berufen und konnte auch wirklich einer sein. Dann muss aber die Bereitschaft zur Umkehr erlahmt sein. Wann das geschah, wissen wir nicht; vielleicht in Kafarnaum, als Jesus die Eucharistie verhieß und den Zuhörern die Rede unerträglich schien. Damals wendete sich die öffentliche Meinung von Jesus ab und auch viele seiner Jünger gingen nicht mehr mit ihm. Da muss die Erschütterung bis in den engsten Kreis gedrungen sein, denn Jesus hat die Zwölf nicht umsonst gefragt, wollt auch ihr gehen? Zu glauben im vollen Sinne des Wortes, war keiner von ihnen fähig. Petrus tat das Höchste, was ihnen möglich war, als er sich sozusagen mit einem Sprung ins Vertrauen hinein rettete. (mit der Frage) Wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. (…) Vielleicht ist damals der Glaube im Herzen des Judas erloschen. Dass er dann nicht ging, sondern blieb als einer von den Zwölfen, war der Beginn des Verrats. Warum er blieb, kann man nicht sagen. Vielleicht hat er doch noch eine Hoffnung gehabt innerlich durchzukommen oder er hat sehen wollen, wie die Dinge gehen würden.“ soweit Romano Guradini (Der Herr. Betrachtungen über die Person und das Wirken Jesu Christi (Würzburg 1940), S. 437f.)
Romano Guardini schlägt eine Brücke von der großen Brotrede Jesu im sechsten Kapitel des Johannes-Evangelium bis hin zum Letzten Abendmahl. Nach der wunderbaren Brotvermehrung offenbarte sich Jesus als das Brot des Lebens: „Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben.“ (Joh 6,34) Dann heißt es weiter: „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt.“ (Joh 6,51) Als sich daraufhin Protest erhob, fuhr Jesus fort: „Mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise und mein Blut ist wahrhaft ein Trank. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich bleibe in ihm.“ (Joh 6,55f.) Nach diesen Worten haben sich viele Menschen von Jesus abgewandt und Romano Guardini ist der Meinung, es wäre der richtige Zeitpunkt auch für Judas Iskariot gewesen, sich von Jesus zu trennen. Aber das hat er nicht getan. Beim letzten Abendmahl ist ihm wohl bewusst geworden, dass Jesus mit seiner Brotrede sein Todesschicksal vorausdeutete als eine Hingabe für das Leben der Welt. Und dass er dieses Leben mit den Deuteworten über Brot und Wein ganz konkret, leibhaftig jedem Menschen zuteil lassen wollte. Da war für Judas Iskariot die rote Linie überschritten. Da hat er Jesus zumindest für wahnsinnig gehalten, vermutlich aber für einen Gotteslästerer. Das hat wohl auch der Evangelist Johannes so gesehen, denn nachdem er beschrieben hat, dass Jesus dem Judas einen Bissen Brot gegeben habe, schreibt er weiter: „Als Judas den Bissen Brot genommen hatte, fuhr der Satan in ihn.“ (Joh 13,27)
Wir spüren vielleicht manchmal auch die Herausforderung des eucharistischen Glaubens. Wir werden wohl nie verstehen können, warum Jesus die Welt durch seinen Kreuzestod erlöst hat, warum er sein Fleisch hingeben musste für das Leben der Welt. Und wir werden wohl nie verstehen, wie diese seine Liebe zu allen Menschen im Sakrament der Eucharistie zu jedem Einzelnen kommt, der sich in Umkehr und Glaube darauf einlässt. Aber wir können auf die Frage Jesu am Ende der Brotrede, ob auch wir weggehen wollen, mit Petrus antworten: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes.“ (Joh 6,69)