Dass es für einen katholischen Bischof nicht einfach ist, über Thomas Müntzer zu predigen, liegt auf der Hand, zumal in der Predigtreihe in Mühlhausen bedeutende evangelische Bischöfe predigen. Es kann für mich hier nicht darum gehen, das Leben und Wirken Thomas Müntzers aus katholischer Sicht zu würdigen. Dennoch möchte ich mit einer kleinen katholischen Perspektive auf Thomas Müntzer beginnen: Im katholischen Gesang- und Gebetbuch „Gotteslob“ steht ein Lied, das Thomas Münter ins Deutsche übersetzt hat. Es ist eine Übersetzung des alten Hymnus zum Advent Conditor almen siderum, das Thomas Müntzer so übersetzt hat: „Gott, Heiliger Schöpfer aller, Stern erleucht uns, die wir sind so fern, dass wir erkennen Jesus Christ, der für uns Mensch geworden ist.“ (GL 230) Dies ist ein schöner und bedeutungsvoller Liedtext, in dem sich auch das Leben Thomas Müntzers ausdrückt, der Jesus Christus erkennen wollte, um ihm in einer Weise nachzufolgen, die dem Evangelium entspricht. Wie gesagt, kann ich hier keine Würdigung des Lebens und Wirkens Thomas Müntzers aus katholischer Sicht vorlegen. Ich möchte vielmehr einen Blick werfen auf den Anfang seines Lebens und Wirkens, um zu zeigen, wie sein Suchen nach der Erkenntnis Jesu Christi geprägt war von den Verhältnissen seiner Zeit und den Verhältnissen der Kirche seiner Zeit. Ich beziehe mich dabei hauptsächlich auf die Biographie Thomas Müntzers, die Professor Hans Jürgen Görtz im Jahr 2015 vorgelegt hat. Er ist ein Experte der Reformationsgeschichte und war von 2008-2016 Vorsitzender der Thomas-Müntzer-Gesellschaft.
Thomas Müntzer stammte wahrscheinlich aus einer wohlhabenden Handwerkerfamilie in Stolberg, möglicherweise aus Kreisen von Münzmeistern und Goldschmieden. Im Wintersemester 1506/07 begann er das Studium der freien Künste an der Universität in Leipzig. Es ist nicht bekannt, wie lange er in Leipzig blieb. Wahrscheinlich ist jedoch, dass er die Universität ohne einen Abschluss wieder verließ, weil sein Name in keine Examensliste auftaucht. Sicher ist, dass er sein Studium im Wintersemester 1512/13 in Frankfurt an der Oder wieder aufnahm. Dort muss er das Bakalaureat erworben haben. Es ist nicht bekannt, ob Thomas Müntzer das Studium mit dem Ziel aufgenommen hat, Weltgeistlicher zu werden, oder ob er sich allgemein den Zugang zu einem akademischen Beruf erschließen wollte. Auf jeden Fall hat er mit großer Neugier und mit großem Interesse das Wissen seiner Zeit aufgenommen. Diese Kenntnisse prägen seine späteren Predigten und Schriften. Belegt ist aber nur, dass Thomas Müntzer in Leipzig und Frankfurt studiert hat. Allerdings muss dieses Studium, das auch die Theologie umfasste, seine Berufung geweckt und gefördert haben, Jesus Christus in besonderer Weise nachzufolgen. Er hat Theologie nicht nur aus Interesse studiert, sondern wurde von dem ergriffen, was er dort hörte und lernte. Denn aus einer Präsentationsurkunde für ein Altarlehen in Braunschweig geht hervor, dass er im Jahr 1514 in der Diözese Halberstadt zum Priester geweiht wurde. Dieses Altarlehen sicherte ihm Einkünfte, die allerdings so bescheiden waren, dass der mit Thomas Müntzer befreundete Händler Hans Pelt sie als „armes Lehen“ bezeichnete . In Braunschweig war es in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu erheblichen Spannungen zwischen dem Klerus und den Ratsmitgliedern gekommen, die mit den bestehenden kirchlichen Verhältnissen, die sie als „Pfaffenkrich“ bezeichneten, unzufrieden und gegenüber religiösen Neuerungen aufgeschlossen waren. Zudem wurde auch in Braunschweig über Sinn und Berechtigung des Ablasses noch vor Luthers Ablassthesen von 1517 diskutiert. Offensichtlich hatte die Kampagne Johann Tetzels für den Petersablass in der Gegend um Braunschweig die Gemüter erregt und verunsichert. Thomas Müntzer konnte sich diesen Auseinandersetzungen nicht entziehen und war sicher dankbar, dass es ihm gelang, neben dem Altarlehen in Braunschweig eine Stelle als Präfekt des Kanonissenstifts Sankt Cyriakus in Forse bei Aschersleben zu erhalten. Diese Aufgabe war für ihn nicht nur aus wirtschaftlicher Hinsicht wichtig, sondern auch deswegen, weil sie ihm die Möglichkeit zum Studium bot. Aus dieser Zeit sind als älteste erhaltene Schriften Müntzers einige Blätter des lateinischen Officiums Sancti Cyriaki erhalten, die das Interesse Thomas Müntzers an liturgischen Fragen belegen, und die zeigen, dass er schon zu Beginn seiner priesterlichen Tätigkeit einen besonderen theologischen Akzent auf eine Frömmigkeit legte, die aus dem Martyrium in der Nachfolge Christi lebt. Um den mit Thomas Müntzer befreundeten Hans Pelt hatte sich eine Gruppe religiös ergriffener Menschen gesammelt, die ihr Heil mit besonderem Ernst in der Nachfolge Christi suchten. Thomas Müntzer gehörte dazu und wurde wohl zur geistlichen Mitte dieses Kreises. In diesem Kreis wurde ein von der devotio moderna geprägte Bibelhumanismus gepflegt, als dessen Vermittler Handelsleute auch sonst bekannt sind. Die Devotio moderna war eine laizistische, aus dem Geist der Mystik schöpfende Reformbewegung, die hohen moralischen Ansprüchen verpflichtet war. Sie entstand in den Niederlanden und griff am Vorabend der Reformation auf deutsche Gegenden über und stärkte auch dort das Selbstbewusstsein der Laien gegenüber dem Klerus. Die Devotio moderna schätzte die rechtlich verfasste Kirche, den äußeren Empfang der Sakramente und die Regeln der Ordensgemeinschaften geringer ein als die individuelle Christusbeziehung. Diese Erfahrungen in Braunschweig haben Thomas Müntzer geprägt.
Von Braunschweig führte sein Weg Ende 1517 nach Wittenberg. Dort hatte er Gelegenheit, die großen Theologen der Devotio moderna zu hören, auch wenn sein Name nicht in den Immatrikulationslisten der Universität auftaucht. Die Universität war zum Zentrum der theologischen Reformdiskussionen geworden. In dieser Zeit verfasste Martin Luther seine großen Sermone, die als Flugschriften in alle Welt hinausgingen, wie den Sermon von Ablass und Gnade oder die Sermone über die wichtigsten Sakramente. In Wittenberg bekam Thomas Müntzer auch Kontakt zu Philipp Melanchthon, der gerade nach Wittenberg berufen worden war und eine eindrucksvolle Verbindung von Humanismus und Reformation repräsentierte. Thomas Müntzer wurde angeregt, in Schriften der Kirchenväter zu lesen, die von Humanisten neu herausgegeben worden waren. Er beschäftigte sich mit antiker Rhetorik und mit Platons Schriften. In Wittenberg lernte er auch Franz Günther näher kennen, der 1518/19 als Prediger in St. Nikolai in Jüterbog angestellt wurde. Mit rabiaten reformatorischen Thesen brachte er die Mönche des dortigen Franziskanerklosters strenger Observanz gegen sich auf und zog es nach einem heftigen Disput vor, nicht weiter zu predigen. Thomas Müntzer schien ihm der geeignete Mann zu sein, um die Sache der Reformation in Jüterbog voranzutreiben. Thomas Müntzer setzte die Papstkritik fort und erklärte, der Papst müsse alle fünf Jahre ein Konzil einberufen und müsse sich auch die Einberufung eines Konzils gegen seinen Willen gefallen lassen. Außerdem forderte er, dass der Papst von den Bischöfen gewählt werden soll und die Bischöfe von den Priestern bzw. konziliaren Versammlungen. Ähnliche Forderungen werden heute auf dem „Synodalen Weg“ der katholischen Kirche in Deutschland auch erhoben. Den Jüterbogern erschien Thomas Müntzer als „Lutheraner“. Hier wurde diese Bezeichnung erstmals für ein kirchenpolitisches Lager verwendet. Bevor er sich endgültig dem Kampf für die Reformation verschrieb, fügte es sich, dass er in den Jahren 1519/1520 eine längere Zeit der Zurückgezogenheit im Zisterzienserinnenkloster Beuditz bei Weißenfels einlegen konnte. Hier beschäftigte er sich mit der frühen Geschichte der Kirche und las die Chronik des Eusebius. Er vertiefte sich in die Bücher des Augustinus und setzte seine Lektüre der Mystiker fort. Dieses Studium entsprang keinem akademischen Bedürfnis, sondern einem geistlichen. Thomas Müntzer schrieb an Franz Günther nach Jüterbog: „Nicht forsche ich für mich, sondern für den Herrn Jesus.“ Nach den Eindrücken in Wittenberg und den Turbulenzen in Jüterbog hatte Thomas Müntzer in diesem klösterlichen Refugium die Gelegenheit, seine Erfahrungen in aller Ruhe zu überdenken. Was er in Braunschweig begann und in Wittenberg vertiefte, in Jüterbog zur Geltung brachte und in Beuditz nochmals einer erweiternden Reflektion unterzog, setzte Thomas Müntzer in Zwickau fort. Hier trat er schon als Schüler Martin Luthers auf den Plan, dem allerdings der Bürgermeister Erasmus Stuler eine untadelige Lebensführung und theologische Bildung bescheinigte, allerdings „zum größten Nachteil der Religion“
Thomas Müntzer hat sich nicht nur intellektuell mit Theologie befasst, sondern auch existenziell. Er war davon beseelt, die Nachfolge Jesu Christi in seinem Leben zu verwirklichen. Es ist nicht belegt, aber wahrscheinlich, dass dies auch die Motivation für ihn war, Weltgeistlicher zu werden. Allerdings geriet er mit diesem persönlichen spirituellen Anliegen in Konflikt mit der Kirche seiner Zeit – ob es der Machtanspruch des Klerus war oder eine Ablasstheologie, der es offensichtlich mehr um das Geld für den Bau der Peterskirche in Rom ging als um das Heil der Seelen. Die zu seiner Zeit von der Kirche vorgegebenen Formen der Nachfolge Christi wurden ihm immer suspekter. So predigte etwa sein Freund Franz Günther als Wittenberger Prädikant auf der Kanzel der Nikolaikirche, „dass man nicht zu beichten brauche, weil dieses Gebot nirgends in der Schrift zu finden sei, dass man nicht zu fasten brauche, weil Christus für uns gefastet habe, dass man nicht die Heiligen anrufen solle, dass die Böhmen bessere Christen seien als wir.“ Thomas Müntzer wollte vielmehr eine persönliche, fast mystische Beziehung zu Jesus Christus pflegen. Am Ende der Zeit der Zurückgezogenheit im Zisterzienserinnenkloster Beuditz vertraute er seinen weiteren Weg dem Herrn Jesus Christus an: „Wenn er will, wird er mich dorthin senden, wohin er mich senden will.“ Dies war der tiefe innere Antrieb für Thomas Müntzer, die Kirche zu erneuern. Dazu kommt das von den Humanisten grundgelegte Interesse für die Kirche der Anfänge und für die Kirchenväter. Auch im vergangenen Jahrhundert hat sich die katholische Kirche aus der Praxis und der Erkenntnis der Kirche des Anfangs erneuert. Die großen Theologen des Zweiten Vatikanischen Konzils waren auch große Kenner der Schriften der Kirchenväter und der Geschichte der alten Kirche. Am Anfang war Thomas Müntzer ein Christ und Priester mit einer tiefen Christusfrömmigkeit. In dem Adventslied, das auch Einzug in das katholische Gesang- und Gebetbuch „Gotteslob“ gefunden hat, übersetzt Thomas Müntzer: „Wir bitten dich, o heilger Christ, der du zukünftig Richter bist, lehr uns zuvor dein Willen tun und an dem Glauben nehmen zu.“ (GL 230)